Es gibt heute ein allgemein akzeptiertes axiomatisches Fundament der Mathematik: die Mengenlehre, so wie sie in den Zermelo-Fränkel-Axiomen festgelegt ist (oft abgekürzt als ZF ). Meist nimmt man noch das Auswahlaxiom hinzu und kürzt dieses Axiomensystem mit ZFC ab, wobei das C für choice steht. Die Details dazu hatten wir in den Kapiteln 4.1 bis 4.4 kennengelernt (speziell in Kapitel 4.2 Die Axiome der Mengenlehre ).
Die Mengenlehre ist extra dazu gebaut, um mit Unendlichkeiten umzugehen. Besonders gut schafft sie das bei der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen. Sie kann die Gesamtheit der natürlichen Zahlen viel besser erfassen als die Peano-Arithmetik, die sich nur zählend von Zahl zu Zahl vorwärtshangeln kann. Das liegt daran, dass man in der Mengenlehre über die Menge der natürlichen Zahlen insgesamt sprechen kann, und darüber hinaus sogar über alle Teilmengen der natürlichen Zahlen, also über alle ihre Eigenschaften. Das ist speziell bei der Induktion wichtig und führt dazu, dass alle Modelle der natürlichen Zahlen in der Mengenlehre gleichwertig zueinander sind (siehe Kapitel 4.4 ). So wundert es nicht, dass man im Rahmen der Mengenlehre Dinge über die natürlichen Zahlen beweisen kann, die für die Peano-Arithmetik unentscheidbar sind. Als Beispiel dafür haben wir die Goodsteinfolgen in Kapitel 4.6 kennengelernt.
So wie die Peano-Arithmetik Schwierigkeiten mit der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen hat,
so hat die Mengenlehre Schwierigkeiten mit der Unendlichkeit von komplizierteren Mengen.
Mit der Unendlichkeit der natürlichen Zahlen kommt sie dagegen gut zurecht –
es müssen schon gravierendere Unendlichkeiten sein, die Probleme machen.
Die überabzählbare Unendlichkeit des Kontinuums (die reellen Zahlen) ist gravierend genug.
So wissen wir aus Kapitel 4.4, dass es abzählbare Modelle für die ZFC-Axiome
der Mengenlehre gibt. In diesem Modell wären die reellen Zahlen abzählbar, wobei dies aber innerhalb des
Modells nicht erkennbar ist, sondern nur gleichsam von außen.
Ein anderes Problem, das mit reellen Zahlen zusammenhängt, ist die Kontinuumshypothese
(siehe Kapitel 4.3 ).
Nach dieser Hypothese gibt es keine unendliche Menge, die sich nicht komplett durchnummerieren lässt,
die sich aber auch nicht eins-zu-eins den reellen Zahlen zuordnen lässt, ohne dass reelle Zahlen übrig bleiben.
Es gibt also keine Menge mit einer Mächtigkeit zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen.
Insbesondere gibt es nach der Hypothese auch keine entsprechende Teilmenge der reellen Zahlen.
Kann man das beweisen? Die ZFC-Axiome können dies jedenfalls nicht, denn die Kontinuumshypothese
ist dort unentscheidbar!
Die Mächtigkeit einer Menge kann man auch als Grad ihrer Unendlichkeit betrachten.
Die Mengenlehre ZFC weiß nicht genug über Mengen, um solche Fragen beantworten zu können.
Speziell weiß sie auch nicht genug über die Teilmengen der reellen Zahlen, also über die Eigenschaften
der reellen Zahlen. ZFC weiß nicht, ob man reelle Zahlen
so heraussuchen kann, dass es überabzählbar viele sind, aber nicht genug, um eine Eins-zu-Eins-Zuordnung zu
allen reellen Zahlen aufstellen zu können. Nimmt man beispielsweise das überabzählbare
Intervall der reellen Zahlen zwischen
In Kapitel 4.3 haben wir einige Möglichkeiten kennengelernt, dieses fehlende Wissen in ZFC durch neue Axiome zu ergänzen. So kann man das Konstruierbarkeitsaxiom hinzufügen, das nur Mengen zulässt, die in einem bestimmten Sinn aus einfacheren Mengen konstruierbar sind (siehe Wikipedia: Constructible universe ). Für solche Mengen ist die Kontinuumshypothese beweisbar, d.h. es gibt keine konstruierbare Menge mit einer Mächtigkeit zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen. Außerdem ist das Auswahlaxiom für konstruierbare Mengen automatisch richtig, braucht also nicht gefordert zu werden.
Eine andere Möglichkeit aus Kapitel 4.3 war das Axiom der Determiniertheit, welches das Auswahlaxiom ersetzt (es verträgt sich nämlich nicht mit diesem). Das Axiom hat etwas mit einem unendlichen Spiel zweier Spieler zu tun, die abwechselnd die einzelnen Dezimalstellen (oder Binärstellen) einer Zahl wählen dürfen. Der erste Spieler versucht dabei, zu erreichen, dass die entstehende Zahl zu einer vorgegebenen Menge gehört, während der zweite Spieler das verhindern möchte. Kann der erste Spieler es immer erreichen, dass die entstehende Zahl zur Menge gehört, oder kann der zweite Spieler dies immer verhindern, so spricht man von einer determinierten Menge. So ist jede abzählbare Menge determiniert, denn der zweite Spieler kann mit dem Cantorschen Diagonalverfahren immer verhindern, dass die im Spiel entstehende Zahl zur Menge gehört. Das Axiom der Determiniertheit fordert nun, dass nur determinierte Mengen erlaubt sind. Und wieder kann man in diesen Mengen die Kontinuumshypothese beweisen, d.h. eine fragliche Menge zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen kann auch nicht determiniert sein.
Sowohl das Konstruierbarkeitsaxiom als auch das Axiom der Determiniertheit beschränken die mögliche Komplexität von Mengen, also in gewissem Sinn die möglichen Unendlichkeiten. Man kann aber auch versuchen, diese Unendlichkeiten zuzulassen und eine Art Überblick über sie zu gewinnen (Stichwort deskriptive Mengenlehre, siehe Kapitel 4.3 ). Das kann man beispielsweise mit Hilfe der sogenannten Kardinalzahlen tun. Schauen wir uns das in diesem Kapitel etwas näher an!
Kardinalzahlen sind ein Maß für die Mächtigkeit von Mengen. Sie beantworten die Frage, welche von zwei Mengen in einem bestimmten Sinn die größere ist. Das tun sie auch bei unendlichen Mengen, was beispielsweise für die Kontinuumshypothese nützlich ist.
Zum Vergleich: Ordinalzahlen, wie wir sie in Kapitel 4.6 bei den Goodsteinfolgen kennengelernt haben, dienen zur Positionsbestimmung in einer geordneten Menge, die auch größer als die natürlichen Zahlen sein kann. Wichtig ist hier immer die Frage: Welches Element steht weiter rechts, hat also die größere Ordinalzahl? Bei endlichen Mengen gibt es keinen wesentlichen Unterschied zwischen Kardinalzahl und Ordinalzahl, denn die Ordinalzahl (Nummer) des letzten Elementes ist gleich der Gesamtanzahl der Elemente der Menge, also gleich der Kardinalzahl. Bei unendlichen Mengen dagegen entsprechen Kardinalzahlen und Ordinalzahlen zwei unterschiedlichen Konzepten, mit der Unendlichkeit umzugehen. Details siehe weiter unten.
Die Idee, die Mächtigkeit unendlicher Mengen zu messen, kennen wir vom Begriff der Abzählbarkeit her (siehe Kapitel 4.1 ). Wir wollen die Mächtigkeit von unendlichen Mengen so definieren, dass überabzählbar unendliche Mengen wie die reellen Zahlen mächtiger als abzählbar unendliche Mengen sind. Die reellen Zahlen sind also mächtiger als die natürlichen oder die rationalen Zahlen. Das leuchtet ein! Dagegen sollen alle abzählbar unendlichen Mengen gleich mächtig sein. Die natürlichen und die rationalen Zahlen wären demnach gleich mächtig, da man letztere abzählen kann:
Das ist gewöhnungsbedürftig, da die natürlichen Zahlen eine Teilmenge der rationalen Zahlen sind. Man kann zu den rationalen Zahlen sogar noch abzählbar viele reelle Zahlen hinzunehmen, beispielsweise die algebraischen Zahlen, die Nullstellen von abzählbar vielen Polynomen sind. Die Mächtigkeit der Menge bleibt dieselbe. Bei unendlichen Mengen kann es also passieren, dass eine unendliche Teilmenge gleich mächtig zur Gesamtmenge ist.
Halten wir diese Idee fest:
Mächtigkeit von Mengen:
|
Im Grunde kennen wir das schon von der Kontinuumshypothese aus Kapitel 4.1 her.
Wir haben es hier nur noch einmal explizit aufgeschrieben.
Nun zu den Kardinalzahlen: Sie sind keine Zahlen im engeren Sinn, sondern sie sind
Äquivalenzklassen von gleich mächtigen Mengen.
Man fasst also alle gleich mächtigen Mengen zusammen und kann sich dann eine davon als
typischen Repräsentanten für die Kardinalzahl aussuchen.
Nennen wir diesen Repräsentanten
Kardinalzahlen:
Die Kardinalzahl |
Dabei haben wir eine Feinheit außer Acht gelassen:
Streng genommen gibt es die Menge aller Mengen mit gleicher Mächtigkeit wie
Warum spricht man bei Kardinalzahlen gerne von verallgemeinerten Zahlen?
Bei endlichen Mengen mit
Formales Rechnen mit Kardinalzahlen:
Wir starten mit zwei disjunkten Mengen
|
Bei endlichen Mengen kann man die ersten beiden Regeln direkt nachvollziehen.
Die dritte Regel ist da etwas komplizierter, aber man kann sie auch verstehen:
Fügt man in der Menge
Ein Beispiel:
Mit dem Auswahlaxiom kann man für die Kardinalzahlen unendlicher Mengen zeigen:
Ein Beispiel für die Regel
Nun sind wir gerüstet, uns noch einmal den Unterschied zwischen Kardinalzahlen und
den Ordinalzahlen aus Kapitel 4.6 anzusehen.
Ordinalzahlen werden dadurch definiert, dass man den Prozess des Zählens
über die Gesamtmenge
Man geht oft so vor, dass man die kleinste Ordinalzahl mit einer bestimmten Mächtigkeit als Repräsentanten der Äquivalenzklasse nimmt, oder sie sogar einfach gleich der Kardinalzahl setzt. Das muss dann immer eine Ordinalzahl ohne direkten Vorgänger sein, denn ein solcher Vorgänger hätte dieselbe Mächtigkeit. Ohne Auswahlaxiom geht das übrigens nicht, da man dann nicht mehr jede Menge wohlordnen kann und sie damit keine Ordinalzahl mehr besitzt. Ohne Auswahlaxiom ist es auch nicht mehr möglich, beliebige Kardinalzahlen in ihrer Größe miteinander zu vergleichen, also bei beliebigen Mengen zu sagen, welche von beiden die Mächtigere ist oder ob sie gleich mächtig sind – aber das nur am Rande, denn wir wollen das Auswahlaxiom hier voraussetzen.
Gibt es eine größte Kardinalzahl, also eine mächtigste Sorte von Mengen?
Schauen wir uns dazu die Potenzmenge einer Menge
Aus Kapitel 4.2 wissen wir: Wenn
Kardinalzahl der Potenzmenge:
Die Potenzmenge einer Menge |
Nun kann man nach dem Potenzmengenaxiom (siehe Kapitel 4.2 ) zu jeder Menge
Kommen wir noch einmal zur Kontinuumshypothese.
Die reellen Zahlen haben dieselbe Mächtigkeit wie die Potenzmenge von
Kontinuumshypothese:
Es gibt keine Kardinalzahlen zwischen |
Das kann man auch auf beliebige unendliche Mengen
verallgemeinerte Kontinuumshypothese:
Es gibt keine unendlichen Kardinalzahlen zwischen |
Es gibt also nach der Hypothese keine Menge, die in ihrer Mächtigkeit
zwischen jeder beliebigen unendlichen Menge
Welche Kardinalzahlen gibt es?
Zunächst haben wir natürlich die Kardinalzahlen endlicher Mengen, also die natürlichen Zahlen.
Die nächstgrößere Mächtigkeit haben dann die abzählbar unendlichen Mengen.
Ihre Kardinalzahl ist
also den hebräischen Buchstaben
Nun haben wir gerade gelernt, dass es immer größere Kardinalzahlen gibt,
und man kann sie sogar der Größe nach
ordnen (Auswahlaxiom vorausgesetzt). Dabei gibt es zu jeder Kardinalzahl einen nächstgrößeren Nachfolger,
aber wie bei den Ordinalzahlen hat nicht jede Kardinalzahl einen nächstkleineren Vorgänger
(warum, kommt gleich).
Daher kann man sie nicht mit natürlichen Zahlen komplett der Größe nach
durchnummerieren, sondern nur mit Ordinalzahlen, wobei jede Ordinalzahl beim Durchnummerieren
gebraucht wird:
Die Kontinuumshypothese behauptet also, dass die nächstgrößere
Mächtigkeit nach den natürlichen Zahlen
die reellen Zahlen sind. Wie wir wissen, ist diese Behauptung in der ZFC-Mengenlehre
unentscheidbar. Die ZFC-Axiome sagen zwar, dass man die Kardinalzahlen ordnen kann, sagen aber
schon bei der zweiten unendlichen Kardinalzahl nicht mehr,
ob diese der Mächtigkeit der reellen Zahlen entspricht.
Moderne Entwicklungen in der Mengenlehre legen oft
Ähnlich ist es wegen der verallgemeinerte Kontinuumshypothese auch bei anderen Kardinalzahlen.
Es ist also aufgrund der ZFC-Axiome nicht allgemein entscheidbar, ob die Nachfolger-Kardinalzahl
durch Bilden der Potenzmenge erreicht werden kann oder nicht.
Dazu legen die ZFC-Axiome den
Mengenbegriff nicht hinreichend genau fest.
Potenzmengenbildung und Nachfolger-Kardinalzahlen bilden in der ZFC-Mengenlehre zunächst einfach
nur zwei verschiedene Konzepte, zu größeren Mächtigkeiten zu gelangen,
ohne dass festliegt, wie beide Konzepte miteinander verbunden sind.
Geht man von der Gültigkeit der
verallgemeinerten Kontinuumshypothese aus, so
ist die Nachfolger-Kardinalzahl
Was aber ist dann
Leicht erreichbare (singuläre) und schwer erreichbare (reguläre) Kardinalzahlen:
Eine unendliche Kardinalzahl
Geht diese Darstellung nicht (weil beispielsweise die Indexmenge
|
Eine unendliche Potenzmenge wäre beispielsweise schwer erreichbar.
Die Begriffe singulär und regulär sind historisch bedingt und laufen manchmal Intuition
zuwider – ich versuche daher, sie hier weitgehend zu vermeiden.
Schon die erste unendliche Kardinalzahl
Analog ist es mit
Von
Limeskardinalzahl:
Eine Limeskardinalzahl ist eine Kardinalzahl ohne nächstkleineren Vorgänger.
Für eine Limeskardinalzahl |
Wie kann man aber nun eine Limeskardinalzahl erreichen?
Zumindest bei der ersten Limeskardinalzahl
Das ist ganz analog zu den Grenz-Ordinalzahlen aus Kapitel 4.6.
Die Kardinalzahl
Bleibt die Frage, ob auch größere Limeskardinalzahlen leicht erreichbar sind, also durch Bilden der Vereinigungsmenge aller kleineren Kardinalzahlen mit kleinerer Indexmenge erreichbar sind. Das ist tatsächlich normalerweise der Fall (nämlich dann, wenn sich die Existenz der Limeskardinalzahl in ZFC beweisen lässt, siehe unten). Dennoch könnte man fragen:
Diese harmlos aussehende Frage hat es in sich, wie wir noch sehen werden. Eine solche Limeskardinalzahl muss irgendwie eine unglaublich gigantische Mächtigkeit von Mengen repräsentieren, wenn weder Nachfolgerschritte (Potenzmengenbildung) noch die Bildung der Vereinigungsmenge aller bisherigen Schritte diese Mächtigkeit erzeugen können. Wie soll man dann an eine solche Kardinalzahl überhaupt noch herankommen? Tatsächlich stellt sich heraus, dass sich die Existenz solcher Kardinalzahlen in ZFC werder beweisen noch widerlegen lässt – sie liegen außerhalb der Reichweite der ZFC-Axiome. Mehr dazu etwas weiter unten beim Thema unerreichbare Kardinalzahl.
Jede Kardinalzahl ist zugleich auch eine Ordinalzahl (Auswahlaxiom vorausgesetzt), wobei man
üblicherweise immer die kleinste aller gleich mächtigen Ordinalzahlen nimmt.
So hat Cantor beispielsweise
Ohne Auswahlaxiom ist die Lage komplizierter, da man dann nicht mehr jede Menge wohlordnen und ihr eine Ordinalzahl zuordnen kann. Entsprechend gibt es dann Kardinalzahlen, die keine Ordinalzahl sind, da man die entsprechenden Mengen nicht wohlordnen kann. Man kann dann nicht immer sagen, welches die größere Kardinalzahl ist, also welches die mächtigere Menge ist. Wir hatten das oben bereits erwähnt. In diesem Kapitel wollen wir aber das Auswahlaxiom allgemein voraussetzen, also ZFC statt nur ZF betrachten.
Die obige Grafik zeigt, wie es nach
Ich muss zugeben, dass meine Intuition hier langsam versagt.
Man kann das Ganze sogar noch weiter treiben:
Irgendwie hat man dabei immer ein Werkzeug, das einen bis zu einer Mächtigkeit
– nennen wir sie
Wenn man dann das Werkzeug nach unendlicher Iteration ausgereizt hat, fordert man die Existenz eines neuen Werkzeuges, indem man sagt, dass dieses neue Werkzeug die Grenzen des alten Werkzeuges überwinden kann. Auch dieses neue Werkzeug kann man nun iterieren, und zwar immer bis zu der Mächtigkeit, die es einem bisher geliefert hat.
Tja, und dann fordert man schließlich wieder ein neues Werkzeug, das alle bisherigen Grenzen sprengt. Außerdem ist auch dieses Werkzeug-Erfinden eine Art Iteration, die man auf die Spitze treiben kann. Und so geht es immer weiter. Wichtig ist, dass man immer wieder eine neue Idee braucht, die über alle bisherigen Iterationen hinausgeht. Anders gesagt: Prinzipiell neue Mächtigkeiten erfordern offenbar neue Axiome!
In diesem Sinne (neue Axiome) kann man auch generell über (ggf. noch größere) "unerreichbare" Kardinalzahlen (also Mächtigkeiten von Mengen) nachdenken, die man überhaupt nicht mehr explizit angeben kann. So sind sie definiert:
unerreichbare Kardinalzahl:
|
Das sind im Grunde drei Negativaussagen, die klarmachen, wie man nicht
zu einer unerreichbaren Kardinalzahl kommen kann –
weshalb sie eben auch unerreichbar ist.
Aber wie kann man ergründen, ob es solche Kardinalzahlen überhaupt gibt?
Die ZFC-Mengenlehre gibt auf diese Frage keine eindeutige Antwort. Sie sagt, solche Kardinalzahlen sind denkbar, aber auch ihr Fehlen ist denkbar. Man kann mit den Mitteln der ZFC-Mengenlehre nicht entscheiden, ob es sie gibt.
Das bringt uns zurück zu folgender Frage: Warum ist die ZFC-Mengenlehre nicht mächtig genug, um die Existenz einer oder gar mehrerer unerreichbaren Kardinalzahlen zu entscheiden?
Eine anschauliche Begründung wäre: Weder die Potenzmengenbildung noch eine weniger mächtige Vereinigung weniger mächtiger Mengen reichen aus, um die Mächtigkeit einer unerreichbaren Kardinalzahl zu erzeugen. Damit hat die ZFC-Mengenlehre aber keine Werkzeuge mehr, um diese Mächtigkeit gleichsam von unten zu konstruieren. Es bleibt also nichts anderes übrig, als die Existenz entsprechend mächtiger Mengen explizit zuzulassen oder abzulehnen – beide Alternativen sind möglich.
Eine andere Begründung ergibt sich,
wenn man sich Modelle der ZFC-Mengenlehre
in der Hierarchie aller Mengen anschaut. Wir werden nämlich gleich herausfinden,
dass die Hierarchiestufe Nummer
Da ZFC nun nicht seine eigene Widerspruchsfreiheit beweisen kann, kann es auch nicht
beweisen, dass es eine Hierarchiestufe Nummer
Wie kann man die Welt aller denkbaren Mengen systematisch von unten nach oben aufbauen?
Man fängt mit der einfachsten Menge an, also mit der leeren Menge.
Und dann baut immer neue Hierarchiestufen auf,
indem man die Potenzmenge der Vorgängerstufe bildet,
also die Menge aller Teilmengen inklusive der leeren Menge
(wobei auch die komplette Menge der Vorgängerstufe als Teilmenge zählt,
also als Element in der Potenzmenge vorkommt).
Auf diese Weise entsteht eine Hierarchie von immer mächtigeren Mengen,
die man auch als von-Neumann-Universum bezeichnet
und mit dem Buchstaben
Man sieht, wie es immer komplexer wird. Die Zahl der Mengen (Elemente) nimmt exponentiell zu.
Insbesondere sind in der Menge der Stufe
Stufe |
Dabei läuft
Stufe |
Eine der Mengen in
Und so geht es immer weiter, wobei der Index schrittweise alle Ordinalzahlen durchläuft.
Übrigens: Falls der Eindruck entsteht, dass bei
Stufe |
d.h.
Ganz am Schluss bildet man dann die große Vereinigungsklasse
|
Allerdings ist
Auch wenn diese Hierarchie schrittweise erzeugt wurde und erst einmal einen ganz soliden Eindruck macht,
so muss man sich dennoch klarmachen, dass man es hier mit keiner einfachen Hierarchie
nach dem Muster 1, 2, 3, 4, ... zu tun hat, sondern mit einer Hierarchie
nach dem Muster 1, 2, 3, 4, ... , ω, ω+1, ... ,
bei der mit "..." unendlich viele Schritte abgekürzt werden, und dies unendlich oft – eben so,
wie man mit Ordinalzahlen zählt. Man spricht von einer transfiniten Rekursion,
ganz analog zur transfiniten Induktion aus Kapitel 4.6.
Dabei entstehen Mengen von beliebig großer Komplexität und Mächtigkeit, je weiter man geht.
Immerhin genügt ja bereits ein einziger Potenzmengen-Schritt, um aus einer abzählbar unendlichen Menge
eine überabzählbare zu machen. Im nächsten Schritt entstehen dann alle Teilmengen der überabzählbaren Menge.
Von den reellen Zahlen her wissen wir, dass es sehr komplexe Teilmengen der reellen Zahlen gibt,
also wahre mathematische Monster.
Was geschieht dann erst bei der transfiniten Rekursion dieses Potenzmengen-Schrittes!
Irgendwann werden sich daher die Grenzen der ZFC-Axiome zeigen, denn sie werden diese Komplexitäten
nicht beliebig weit erfassen können. Die ZFC-Axiome erlauben es nicht,
das Gesamtuniversum
Das Mengenuniversum
Reflexionsprinzip:
Das absolut Unendliche ist unbeschreibbar, kann also nicht durch eine Eigenschaft charakterisiert werden, die es von anderen Dingen unterscheidet. Insbesondere kann das absolut Unendliche nicht das einzige Objekt sein, das eine bestimmte Eigenschaft aufweist, denn dann wäre es ja durch diese Eigenschaft charakterisierbar. Jede Eigenschaft, die wir dem absolut Unendlichen zuschreiben, muss also auch einem anderen Objekt zukommen. |
Bezogen auf das Mengenuniversum
Reflexionsprinzip in der Mengenlehre:
Wenn wir dem Mengenuniversum |
Wenn wir beispielsweise sagen, dass
Und wenn wir sagen,
Ist das Reflexionsprinzip zuverlässig?
Kann man in ZFC beweisen, dass es eine solche
Stufe
Immerhin legt das Reflexionsprinzip aber nahe, dass
Modellstufen
Man kann sich überlegen dass alle ZFC-Axiome bis auf Eines in
Niemand hindert uns daran, die Existenz von Mengen mit gewissen unerreichbaren Mächtigkeiten
Wie man heute weiß, lässt sich Gödels Idee so leider nicht durchführen. Man konnte mit Hilfe vom Modellerweiterungen (Forcing-Methode) zeigen, dass große Kardinalzahlen die Kontinuumshypothese nicht entscheiden können. Die Kontinuumshypothese ist also eine Nummer zu schwer für unerreichbare Kardinalzahlen.
Andererseits ist die ZFC-Mengenlehre nach heutigem Wissen vermutlich stark genug, um alle natürlicherweise in der Zahlentheorie auftretenden Fragen über natürliche Zahlen entscheiden zu können. Man sagt, ZFC scheint bezüglich natürlicher arithmetischer Aussagen vollständig zu sein. Mit natürlich meint man Probleme, die man nicht extra als unabhängig von der ZFC-Mengenlehre konstruiert hat, sondern die man ohne Rücksicht auf die Mengenlehre in der üblichen Zahlentheorie untersucht. Gibt es vielleicht natürliche Aussagen, die in ihrer Komplexität zwischen den typischen zahlentheoretischen Problemen und der Kontinuumshypothese liegen? In ZFC alleine wären diese Aussagen dann unentscheidbar, aber die Hinzunahmen geeigneter unerreichbarer Kardinalzahlen würden sie vielleicht entscheidbar machen.
Solche Aussagen gibt es! Schauen wir uns zum Vergleich noch einmal die Kontinuumshypothese an: Sie behauptet, dass es eine Teilmenge der reellen Zahlen mit einer bestimmten einfachen Eigenschaft gibt. Diese Frage nach einer Teilmenge der reellen Zahlen macht die Aussage so komplex, denn Teilmengen der reellen Zahlen können wahre mathematische Monster sein. Weniger komplex sind Aussagen der Form es gibt reelle Zahlen x, so dass ... oder für alle reellen Zahlen x gilt: ... . So etwas nennt man projektive Aussagen. Bei projektiven Aussagen muss jeder in der Aussage vorkommende Quantor auf die reellen Zahlen beschränkt sein, darf also nicht nach Teilmengen der reellen Zahlen fragen, so wie es die Kontinuumshypothese tut. Man kann auch sagen, dass projektive Aussagen aus Sicht der reellen Zahlen von erster Ordnung sind.
Über eine projektive Ausage kann man eine projektive Mengen definieren, nämlich einfach die Menge aller reellen Zahlen, für die die projektive Aussage gilt. So bilden beispielsweise die rationalen Zahlen eine projektive Menge. Auch ein Intervall zwischen zwei reellen Zahlen ist eine projektive Menge. Letztlich sind alle reellen Zahlenmengen, die man als Mathematiker so im täglichen Leben braucht, projektive Mengen. Nicht-projektive Mengen treten eher als pathologische mathematische Monster auf, beispielsweise beim Banach-Tarski-Paradoxon, bei dem man per Auswahlaxiom eine Vollkugel vom Volumen 1 punktweise in vier Punktwolken zerlegt, die man dann über Verschiebungen und Drehungen zu zwei Vollkugeln mit zusammen doppeltem Volumen zusammensetzen kann. Die vier Punktwolken sind Beispiele für solche pathologischen unanschaulichen Mengen. Insbesondere sind sie nicht-Lebesque-messbare Mengen, d.h. sie haben kein Volumen.
Es wäre nun wünschenswert, wenn alle natürlicherweise auftretenden Aussagen über projektive Mengen in der ZFC-Mengenlehre entschieden werden könnten, also eindeutig wahr oder falsch wären. Das ist leider zunächst nicht der Fall. Man stellt aber empirisch fest, dass sie alle gleichwertig sind zu Aussagen über die Existenz gewisser unerreichbarer Kardinalzahlen. Die Erfahrung zeigt also: Die typischen Fragen über alltägliche (also projektive) reelle Zahlenmengen sind gleichwertig zu Aussagen über die Mächtigkeit von Mengen, die zu groß für die ZFC-Mengenlehre sind. Man kann also große Kardinalzahlen dazu verwenden, die natürlichen Aussagen über projektive Mengen nach der Mächtigkeit der Kardinalzahlen zu ordnen. Besonders wichtig ist dabei das folgende Ergebnis aus dem Jahr 1988 (was Woodin-Kardinalzahlen sind, kommt etwas später):
Projektive Determiniertheit (PD) und Woodin-Kardinalzahlen:
Wenn es unendlich viele unerreichbare Woodin-Kardinalzahlen gibt, so ist jede projektive Menge determiniert, d.h. es gilt projektive Determiniertheit (PD). Fordert man umgekehrt, dass jede projektive Menge determiniert ist, so folgt die Existenz der Woodin-Kardinalzahlen. |
Projektive Mengen haben viele wünschenswerte Eigenschaften, wenn sie determiniert sind.
So sind sie beispielsweise Lebesque-messbar, d.h. nicht-messbare Monstermengen wie beim
Banach-Tarski-Paradoxon sind für projektive Mengen ausgeschlossen.
Das Auswahlaxiom wäre für projektive Mengen damit weitgehend entschärft – es wird für diese Mengen
praktisch nicht mehr benötigt.
Man geht heute davon aus, dass
man die ZFC-Mengenlehre möglichst so erweitern sollte, dass projektive Mengen determiniert sind
(mehr dazu weiter unten).
Von oben wissen wir, dass es unter determinierten Mengen kein Gegenbeispiel zur Kontinuumshypothese gibt. Wenn also jede projektive Menge determiniert ist, dann kann es unter ihnen kein Gegenbeispiel zur Kontinuumshypothese mehr geben. Projektive Aussagen über reelle Zahlen können also dann keine reellen Zahlenmengen erzeugen, deren Mächtigkeit zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen liegt.
Natürlich kann man reelle Zahlenmengen definieren, die komplizierter als die projektiven Mengen sind. Auch bei diesen Mengen kann man zeigen, dass die Existenz von bestimmten unerreichbaren Kardinalzahlen gleichwertig zur Determiniertheit dieser Mengen ist, so dass damit allzu schlimme mathematische Monstermengen verhindert werden. Je komplizierter die Menge ist, umso größer müssen die geforderten Kardinalzahlen sein, um Determiniertheit sicherzustellen.
Wie definiert man eigentlich solche unerreichbaren Kardinalzahlen wie beispielsweise die Woodin-Zahlen?
Im Wesentlichen benutzt man sogenannte elementare Einbettungen
Optimal wäre es natürlich, denn
Damit sind wir nun gerüstet für die Definition der Woodin-Kardinalzahlen – nur, damit man sie mal gesehen hat und ein Gefühl für die Komplexität solcher Definitionen bekommt (mehr dazu siehe wieder John R. Steel: What is a Woodin Cardinal, Notices of the AMS, Vol 54, No. 9, S. 1146, October 2007):
Woodin-Kardinalzahlen:
Eine Kardinalzahl
Für alle Teilmengen
Genauer bedeutet das:
Für alle kleineren Kardinalzahlen |
Kann man das verstehen? Versuchen wir es:
Wir schauen uns die Hierarchiestufe
Wie hängt das Ganze nun mit der Wahrheit von projektiven Aussagen über die reellen Zahlen zusammen?
Nehmen wir dazu an, ein
Es zeigt sich, dass die Wahrheit von bestimmten projektiven Aussagen über reelle Zahlen sich durch die Erweiterung nicht ändert. Diese Aussagen haben die Form
Solche Aussagen merken also von neu hinzukommenden reellen Zahlen offenbar nichts. Das kann bei komplizierteren projektiven Aussagen über reelle Zahlen aber im Prinzip anders sein – es müssen nur hinreichend komplexe mathematische Monstermengen aus reellen Zahlen hinzukommen.
Man kann erreichen, dass sich die Wahrheit von allen projektiven Aussagen über reelle Zahlen
durch eine Modellerweiterung nicht ändert (man sagt dann, das Modell ist projektiv absolut).
Die Methode dazu kennen wir bereits:
Wir fordern, dass sowohl das Modell
Es liegt nun nahe, dass man sich ein möglichst kleines Modell als Startpunkt aussuchen sollte, welches aber alle reellen Zahlen sowie unendlich viele Woodin-Kardinalzahlen enthält. Die Wahrheit von projektiven Aussagen über reelle Zahlen ändert sich dann beim Erweitern des Modells nicht. Die über diese Aussagen definierten projektiven reellen Zahlenmengen sind dann determiniert, verhalten sich also einigermaßen gesittet. Die Erfahrung zeigt, dass die Wahrheit aller natürlicherweise auftretenden projektiven Aussagen über reelle Zahlen dann festliegt. In diesem Sinn gelingt es mit Hilfe der Woodin-Kardinalzahlen und der dazu gleichwertigen projektiven Determiniertheit, die Eigenschaften der reellen Zahlen weitgehend einzufangen – zumindest was projektive Aussagen betrifft. Man sagt auch, die projektive Determiniertheit ist für projektive Mengen empirisch vollständig.
Nun ist die Kontinuumshypothese leider keine projektive Aussage – sie ist komplexer, denn sie spricht nicht direkt über reelle Zahlen, sondern sie verneint die Existenz einer bestimmten Teilmenge der reellen Zahlen. Die Woodin-Kardinalzahlen sorgen dann zumindest schon einmal dafür, dass keine projektive Aussage über reelle Zahlen ein Gegenbeispiel zur Kontinuumshypothese erzeugen kann (siehe oben). Aber es könnte ja immer noch kompliziertere reelle Zahlenmengen geben, deren Mächtigkeit zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen liegt. Die Woodin-Kardinalzahlen verbieten das nicht.
Wie komplex ist denn die Kontinuumshypothese?
Zum Vergleich: Arithmetische Aussagen sprechen über natürliche Zahlen
(enthalten aber keine Quantoren über Teilmengen der natürlichen Zahlen).
Die nächste Stufe sind die projektiven Aussagen – sie sprechen über reelle Zahlen
(enthalten aber keine Quantoren über Teilmengen der reellen Zahlen).
Da man reelle Zahlen auch als Teilmengen der natürlichen Zahlen auffassen kann,
sprechen projektive Aussagen auch über
Teilmengen der natürlichen Zahlen
Bei Aussagen dieser Komplexität können wir nicht dasselbe erreichen wie bei den projektiven Aussagen. Große Kardinalzahlen können nicht verhindern, dass der Wahrheitswert dieser Aussagen in verschiedenen Modellerweiterungen unterschiedlich sein kann (siehe Gödels Idee weiter oben). Was also ist zu tun? Nun, man könnte sich auf diejenigen Modellerweiterungen beschränken, die den Wahrheitswert dieser Aussagen unverändert lassen. Man kann zeigen, dass das genau diejenigen Modellerweiterungen sind, bei denen jede sogenannte stationäre (d.h. in gewissem Sinn dicke) Menge bei der Erweiterung stationär bleibt. Man spricht vom Bounded Martin's Maximum.
Und nun sind wir ganz weit vorne an der Front der Forschung: Im Jahr 2002 konnte Todorcevic zeigen, dass bei dieser Einschränkung der möglichen Modellerweiterungen die Kontinuumshypothese in diesen Modellen falsch ist, und dass man in gewissem Sinn eine Menge definieren kann, deren Mächtigkeit zwischen den natürlichen und den reellen Zahlen liegt. Die Formulierung in Ralf Schindler: Wozu brauchen wir große Kardinalzahlen? lautet etwa so:
Was wollen uns diese Worte sagen? Die Bijektion
Bisher hatte jede Zusatzforderung an die ZFC-Mengenlehre üblicherweise dazu geführt, dass die Kontinuumshypothese stimmte. Die Zusatzforderungen wirkten sich wie Restriktionen aus, die die Komplexität von Mengen soweit beschränkten, dass kein Gegenbeispiel mehr möglich war. Nun ist es dagegen gelungen, durch Zusatzforderungen solche Modelle herauszufiltern, in denen es mindestens ein Gegenbeispiel gibt, das sogar halbwegs konkret ist.
Was hat die obige Einschränkung der Modellerweiterungen mit unerreichbaren Kardinalzahlen zu tun? Nun, man kann offenbar zeigen, dass sich auch einige offene Fragen bei unerreichbaren Kardinalzahlen so klären lassen. Und nicht nur solche Fragen – auch viele weitere interessante Aussagen werden entschieden. Übrigens kann man unsere obige Forderung nach Woodin-Kardinalzahlen problemlos hinzunehmen, so dass dann wieder alle projektiven Mengen determiniert sind und auch alle natürlichen projektiven Aussagen entschieden werden. Das ergibt dann eine umfassende und aussagekräftige Theorie, in der viele Aussagen entschieden werden, ohne dass dies einfach nur durch Ausschluss komplizierter Mengen geschieht. Diese Theorie sagt dann, dass ein Gegenbeispiel zur Kontinuumshypothese nicht durch eine projektive Aussage über reelle Zahlen entstehen kann, findet aber dennoch einen Weg, ein Gegenbeispiel zu definieren.
Auch andere moderne Erweiterungen der ZFC-Mengenlehre mit möglichst großer Aussagekraft führen zu ähnlichen Resultaten. Es sieht also heute so aus, als ob die Kontinuumshypothese besser falsch sein sollte. Das bedeutet, dass Modelle, in denen sie wahr ist, eher einen einschränkenden Charakter haben, während Modelle, in denen sie falsch ist, mehr Raum für kompliziertere Konstrukte lassen. Bei dieser Argumentation darf man aber nie vergessen: Die Kontinuumshypothese ist im Rahmen der ZFC-Mengenlehre nicht an-sich wahr oder falsch. Sie ist denkbar, und auch ihr Gegenteil ist denkbar. Eine mathematische Denkwelt, in der sie nicht gilt, scheint aber möglicherweise reichhaltiger zu sein als eine, in der sie gilt. Ob man diesen Reichtum gebrauchen kann, ist momentan noch offen. Vielleicht braucht man ihn, um beispielsweise das P=?NP-Problem zu lösen (siehe Kapitel 5.1)?! Auch aus der theoretischen Physik sind viele Beispiele bekannt, bei denen zuvor scheinbar rein abtrakte mathematische Begriffe plötzlich Nutzen gestiftet haben – man denke an die Differentialgeometrie, die das zentrale Werkzeug der allgemeinen Relativitätstheorie geworden ist, oder an den unendlichdimensionalen Hilbertraum, den man in der Quantentheorie braucht. Die Natur wird eben auch immer abstrakter, je tiefer man in ihre Strukturen vordringt!
Die Untersuchungen zu möglichen und sinnvollen Erweiterungen der ZFC-Mengenlehre sind ein sehr aktives Forschungsgebiet. Immer wieder gibt es dort neue Einsichten. Einen guten Überblick liefert beispielsweise der Artikel Unendlichkeiten – Wie viele reelle Zahlen gibt es? von Natalie Wolchover in Spektrum der Wissenschaft, Januar 2022 (siehe auch Quantamagazine: How Many Numbers Exist? Infinity Proof Moves Math Closer to an Answer). Dort wird beschrieben, wie man mit der Methode des Forcings – eine Art geschickte Intervallschachtelung – immer wieder neue reelle Zahlen konstruieren kann, die zuvor noch nicht in dem verwendeten reellen Modell des Zahlenstrahls vorhanden waren. So kann man das Kontinuum immer wieder erweitern. Mit erweiterten Forcing-Methoden kann man sogar die wildesten Mengenuniversen schaffen – ein Multiversum mehrdeutiger mathematischer Wirklichkeiten.
Ganz so wild und vieldeutig möchte man es dann doch nicht haben. Also versucht man, das Forcing mit geeigneten Zusatzaxiomen zu ZFC sinnvoll einzudämmen. Martins Maximum gehört dazu und war zeitweise sehr beliebt (siehe auch weiter oben). Die Kontinuumshypothese ist dann falsch, d.h. es liegt eine überabzählbare Menge zwischen den natürliche und den reellen Zahlen.
Eine andere Möglichkeit ist Woodins Axiom (*) (ausgesprochen: "Stern") – so genannt,
weil es wie eine helle Lichtquelle erschien.
Es erweitert die ZF-Axiome (ohne das Auswahlaxiom C) plus dem Axiom der Determiniertheit AD.
Mit (*) kann man Aussagen über Eigenschaften von Mengen treffen, beispielsweise:
"Für alle Mengen von
Beide Axiome, Martins Maximum und Woodins (*) sehen vielversprechend und natürlich aus, sind aber wohl nicht kompatibel miteinander. Man muss sich also entscheiden, aber für welches? Es stellte sich dann aber heraus, dass man Martins Maximum leicht abwandeln kann (Martins Maximum++), sodass aus ihm Woodins (*) folgt. Das sieht schon mal gut aus.
Aber die Lage bleibt kompliziert, denn auch Woodins (*) kann man abwandeln zu (*)+, das etwas über die Menge aller reellen Teilmengen sagt, also ein sehr starkes Axiom ist. Leider widerspricht es Martins Maximum.
Die Lage bleibt also verworren. Noch hat sich kein neues Axiom herausgeschält, das als eindeutiger Favorit gelten kann, um die ZF-Axiome zu erweitern, ihre Aussagekraft zu stärken und so die mathematischen Wirklichkeiten (und insbesondere die Natur der reellen Zahlen) besser festzunageln, mit denen man arbeiten möchte. Ob es jemals ein solches Axiom als "natürliche Erweiterung" der ZF-Axiome geben wird, ist ungewiss, aber die Mathematikerinnen und Mathematiker, die sich mit diesem etwas exotischen Gebiet befassen, haben noch lange nicht aufgegeben.
Literatur:
© Jörg Resag, www.joerg-resag.de
last modified on 16 November 2023